Wie viel Borussia steckt in 1899 Ho$$enheim?
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- Veröffentlicht am 01. November 2014
Zugegeben, bei dieser Fragestellung dachte ich, dass dies der kürzeste Vorbericht der Borussia-Geschichte wird. Schließlich passen die beiden Anhängerschaften genauso gut zueinander wie alkoholfreies Bier zu einem Auswärtsspiel. Da kann es ja kaum größere Parallelen geben. Doch weit gefehlt. Die TSG 1899 Hof$$enheim hat mit uns mehr gemeinsam, als man gemeinhin so denkt und hofft. Aber lest selbst:...
Es begab sich zum Jahre 1920, als im Kraichgau eine Fußballmannschaft gegründet wurde. Sie kickten so ein wenig vor sich hin und merkten bald, dass irgendwas dort nicht stimmte: „Wir sind nicht erfolgreich, und kennen tut uns auch niemand.“
Sie schauten sich in ganz Deutschland um und entdeckten in Preußen einen Fußballverein, dem sie nacheifern wollten. Dieser Fußballverein war schließlich schon im Jahre 1900 offiziell aus der Taufe gehoben worden, nachdem ein Jahr zuvor - also im Jahre ACHTZEHNHUNDERTNEUNUNDNEUNZIG!!! - ein paar Eickener Jungs nach dem einen oder anderen Altbier beschlossen hatten, ein Fußballverein zu sein.
Zurück nach Süddeutschland. Die Fußballtruppe war sich sicher, sie müssten einfach ihr Gründungsjahr ändern, dann würden die Menschen sie lieben und ehren. So sahen sie sich im Orte um, und ihr Problem schien gelöst. Schließlich gab es doch hier diesen Turnverein, der bereits im Jahre 1899 gegründet worden war. Dem wollten sie sich nun anschließen, um den Verein vom Niederrhein zu übertrumpfen. Aber die Turner durchschauten das Unterfangen und lehnten eine Vereinigung ab. Lieber noch nahmen sie die Damen-Handballmannschaft auf.
Nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings - man hatte ja sowieso nichts mehr, und auf dem Dorf hilft man sich nun mal - erbarmten sich die Turner doch und gaben den Fußballern, wonach sie strebten. Ein Gründungsjahr, das sich sehen lassen konnte. 1899…
Die Jahre zogen ins Land, beide Mannschaften spielten Fußball, und doch gab es Unterschiede, die dem Dorfverein in Sinsheim gänzlich missfielen. Am Niederrhein wurde der Fußball zelebriert, hoch oben auf diesem Tempel, diesem Bökelberg. Da wurde man fünf Mal Deutscher Meister, gewann drei Mal den DFB-Pokal, zwei Mal den UEFA-Cup, es gab die glorreichen 70er, Hennes Weisweiler, Günther Netzer, Udo Lattek, Allan Simonsen, Jupp Heynkes, ein 12:0 gegen Dortmund, den Büchsenwurf, Pfosten brachen und vieles mehr. Der kleine VfL machte sich weltweit einen Namen. Aber es gab auch Zeiten des Leidens. Zwei Mal aus der Bundesliga abgestiegen, der Verein vor dem Konkurs, die Auswärtsdeppen. All das und noch viel mehr ließ den Mythos Borussia entstehen, auf den Hundertausende in Deutschland so stolz sind.
All das wollte die TSG auch. Doch wie nur? So sehr sie sich auch um Aufmerksamkeit und Ansehen bemühten, sie bekamen es nicht. Ein vermögender Unternehmer aus dem nahen Heidelberg kam ihnen gerade recht, als er in den Dorfverein ein paar Millionen investieren wollte. Sie waren zwar nicht erste Wahl, da dem Unternehmer selber auch das Gründungsjahr 06 gepasst hätte, aber das war ihnen egal. Der Retter würde im Dorf schließlich sogar ein neues Stadion bauen. Im „Dietmar-Hopp-Stadion“ wurde das Unmögliche wahr. Die TSG stieg in die Bundesliga auf. Und nicht nur das: auch das mit der Anhängerschaft schien ein Selbstläufer zu werden, schon bald kamen ein paar Hundert Dorfbewohner mehr, um dem Sinsheimer Treiben beizuwohnen.
Wir schreiben das Frühjahr 2011. Der Verein vom Niederrhein mitten im Abstiegskampf. Leidenschaft, Kampf … auch der VfL benötigt dringend einen Retter. Keinen Geldgeber, keine Initiative, nein, einen Motivator, einen Strategen, der es vermag, eine Mannschaft zu formen, die wieder in die Bundesliga passt. Der Retter kam, und heute ist Lucien Favre viel mehr als das. Die Borussia spielt begeisternden Fußball, zu Tausenden reisen die Fans der Mannschaft quer durch Europa hinterher. Das erinnert an die Vergangenheit, an den Mythos, und es ist doch die Gegenwart. Die Feier nach den Relegationsspielen, der Zusammenhalt, die Euphorie, die Ekstase … Borussia zurück in Europa.
So etwas wollten Hopps Schergen auch erleben. Deshalb suchten auch sie sich den Weg in die Relegation. Das ging fast schief, denn nur durch die Arbeitsverweigerung der Schwarz-Gelben wurde noch Platz 16 erreicht. In den beiden Relegationsspielen sah man Emotionen, Kampf und Leidenschaft nur beim Gegner, den Roten Teufeln vom Betzenberg … gegründet 1900. Tradition kann man sich nicht kaufen.
Die Relegation alleine reichte also nicht, um in die preußischen Fußstapfen zu treten. Dazu brauchte es noch weiterer Helden. Also holte man sich Borussias Relegationshelden Igor de Camargo. Igor der Große wäre aber nicht Igor der Große, hätte er sich im Dorf wohl gefühlt. Nach nur einem halben Jahr zog es ihn zurück in seine belgische Heimat.
Die beiden Teams lieferten sich am Niederrhein schon die eine oder andere Schlacht. Sieben waren es an der Zahl. Sowohl in Punkten als auch in Toren trennte man sich sportlich gesehen bislang unentschieden. Auf den Rängen liegen zwischen den Vereinen Welten. 1899-Söldner gegen 1900%-Fans, die zu Zehntausenden hinter ihrem Verein stehen und zwar in guten wie in schlechten Zeiten. Sportlich wird die Bilanz am Sonntag hoffentlich auch zu preußischen Gunsten korrigiert. Der 02.11.2014 wird dann die nächste Seite der traditionsreichen Borussia-Chronik füllen. Allerspätestens wenn Lucien Favre ausgerechnet an seinem 57. Geburtstag mit seinen Fohlen zum 17. Mal in Folge ungeschlagen bleibt und damit den jahrzehntealten Rekord von Trainerlegende Hennes Weisweiler einstellt, wird er selber zur Legende geworden sein.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann schießt Geld zwar manchmal Tore und bleibt in Liga 1, schlägt aber niemals den Mythos und die Tradition.